Einblicke 2016

Vernetzung der Zukunftswerkstätten 2016

Kommen und Bleiben – Ende der Flucht?

Geflüchtete als Ideengeber in Zukunftswerkstatt zu beteiligen – ein Praxisbericht

 

„Ich bin jetzt ein halbes Jahr in Deutschland. Die letzten drei Tage waren für mich die besten in Deutschland. Ich möchte etwas zurückgeben…“

 

Mai 2016: Was sich in der Lausitz – im Studierhaus der Internationalen Bauausstellung (IBA) – ereignet hat, lässt sich immer noch kaum in Worte fassen. Nach einer kurzen Zeit schien es das Normalste von der Welt zu sein, sich in Arabisch, Deutsch und Englisch gleichzeitig zu verständigen. Ob der Erzählsalon, die Exkursion durch die Industriekultur des künftigen Seenlandes oder die Zukunftswerkstatt, die Begegnungen waren von Respekt und Annäherung unterschiedlicher Lebens- und Erfahrungswelten getragen. Momente der Verunsicherung, Momente der Stille und tiefer Betroffenheit wichen Momenten des Teilens, wichen der Freiheit im Denken und der Ermutigung zu zukünftigem Handeln.

 

Wie es dazu kam?

Oktober 2015: Das Vorbereitungsteam für das 30. Vernetzungstreffen von Zukunftswerkstätten trifft sich im IBA-Studierhaus, um sich mit dem Ort vertraut zu machen und das Thema für 2016 zu erkunden. Schnell ist sich die Gruppe einig, dass „Kommen und Bleiben“ das übergreifende Thema ist. Es verbindet den gesellschaftlichen Wandel in der Lausitz mit den aktuellen Flüchtlingsbewegungen nach Europa. Das Programm führt die Kompetenzen des Teams zusammen: Das Projekt „Lausitz an einen Tisch“ mit den Erzählsalons in fünf umliegenden Gemeinden, die Umwälzungen der südbrandenburgischen Bergbaulandschaft und die Zukunftswerkstatt.

 

Warum nicht Geflüchtete in die Zukunftswerkstatt einladen?

Mitte April 2016: In Sedlitz findet ein bewegender Erzählsalon statt. Flüchtlinge aus dem Übergangsheim Sedlitz und Frauen aus der Gemeinde erzählen ihre Geschichten.

Ja, das ist es! Nicht über Ge­flüchtete reden, sondern gemeinsam an der Zukunft werken. Wir haben die engagierte Heimleitung auf unserer Seite.

 

Woher kommt das Geld für die Teilnahme?

Crowdfunding-Plattformen schießen wie Pilze aus dem Boden. Welche ist die Richtige? Noch 6 Wochen verbleiben! Es braucht mehr als eine Hand, um erfolgreich zu sein. Denn nur wenn der angestrebte Betrag tatsächlich zusammen­kommt, steht auch das eingesammelte Geld zur Verfügung. Vielleicht findet sich ja eine Stiftung, die so kurzfristig noch Mittel zur Verfügung stellt? Gedacht – getan! Die Stiftung „Demokratie von unten bauen“ gibt grünes Licht. Ein gutes Gefühl, dass das Projekt auf fruchtbaren Boden fällt.

 

Wie bauen sich Kontakt und Vertrauen auf?

Ende April 2016: Unsicherheit keimt auf. Wer wird kommen? Ich brauche ein Gefühl dafür, auf was und auf wen ich mich einstellen muss für die Moderation. Die Einladung wird ins Englische übersetzt und ein Treffen vereinbart,um die Einladung persönlich zu überbringen.

Zwei junge syrische Männer, die am Erzählsalon in Sedlitz teilgenommen hatten, wohnen inzwischen in Großräschen. Sie treffen wir beim Einzug an. In Sedlitz organisiert die Heimleitung ein Treffen zum Kennenlernen. Mir fällt auf, dass nicht eine einzige Frau dabei ist. Zum einen kommen überwiegend Männer, da sie bessere Überlebenschancen auf dem Fluchtweg hätten, und zum anderen seien die wenigen Frauen hier mit Kindern, die sie ungerne allein ließen.

 

Wie entwickelten sich das Zusammentreffen und das Zusammenwirken?

Anfang Mai 2016: Es ist das Himmelfahrts-Wochenende. Teilnehmende aus Deutschland und Österreich und mehr als ein Duzend Geflüchteter aus Syrien und Eritrea treffen zusammen.

Das Vernetzungstreffen der Zukunftswerkstätten findet jedes Jahr an einem anderen Ort statt und fördert den offenen Austausch zu gesellschaftlicher Teilhabe. Es will in die Region wirken, ist aber nicht für sie gemacht. Wie geht das gut zusammen, Geflüchtete daran teilhaben zu lassen? Gerade weil es kein Lernprogramm für Geflüchtete ist, entfaltet es offenbar seine eigene Dynamik und vielfältige Wirkungen. In der Moderation arbeiten wir mit dem Community Organizing-Ansatz, um ein zwangloses Kennenlernen zu ermöglichen. Kleine Gruppen mischen sich immer wieder neu – selbstorganisiert – mit der Herausforderung das Verstehen über die Sprachbarrieren hinweg zu meistern. Denn nicht alle sprechen Deutsch, nicht alle Englisch und schon gar nicht Arabisch. So wird oft doppelt übersetzt. In der Zukunftswerkstatt entstand daraus das Thema, „Sprachen lernen in beide Richtungen“.

Am Abend ein großer Kreis. Im Erzählsalon treffen Fluchtgeschichten auf Geschichten von Begegnungen mit Geflüchteten.

Der zweite Tag. Eine Bustour durch die Lausitz. Die angefahrenen Orte sind für alle neu. An den Biotürmen kann hautnah DDR-Geschichte erlebt werden. Bei der Besichtigung entsteht die Idee eines Freiluftcafés, das die Türme miteinander verbindet. Die stillgelegte Förderbrücke des ehemaligen Tagebaus F60 inspiriert, ein Modell gemeinsam mit Kindern zu bauen…

 

Am Abend reflektieren die Teilnehmenden die Eindrücke des Tages – verbunden mit Liedern und Texten von Gerhard Gundermann. Auch diese Lieder sind den meisten unbekannt – die Texte mitten aus dem Leben gegriffen. Da kann jeder etwas mit anfangen.

 

Wie gestalten wir gemeinsam Zukunft?

Der dritte Tag. Zukunftswerkstatt. Die Spannung steigt. Wird es funktionieren? Ich halte mich an Robert Jungk: „Wir sollten Werkstätten und Probebühnen schaffen, in denen die ‚Welt von morgen‘ in ersten Strichen skizziert, kritisiert, in verbesserter Form modelliert, abermals diskutiert und derart auf vielfache Weise dargestellt werden könnte. Ohne Furcht vor Interessenverbindungen, ohne Bindung an Routine und falsche Vorsichten, ohne jede ‚Vernünftigkeit‘, die sich stets am schon Gewussten, schon Gekonnten ängstlich orientiert und so zur Unvernunft wird.“

Ein arabisches Märchen mit dem programmatischen Satz: „Beschwere dich nicht über dein Leben – Gestalte dein Leben selbst!“ zum Start. Die Zeit vergeht wie im Fluge. Themen werden formuliert, Zukunftsbilder gestaltet und szenisch umgesetzt. Am Ende der Zukunftswerkstatt entsteht ein Teppich aus fruchtbaren Ideen zur Umsetzung.

Im Wissen um die Vergänglichkeit dieses Zusammenkommens, fordern wir alle auf, mit Farbe einen Fußabdruck zu hinterlassen.

Eine letzte Runde. Worte der Dankbarkeit. Mutversprechen. Stärke teilen. Dem großartigen Erlebnis und den wahrhaften Wünschen ist nichts hinzuzufügen…

 

Welche Erkenntnisse sind unmittelbar?

Der vierte Tag: Die Teilnehmenden kommen zusammen, um einen Abschluss zu finden. Mit Geschichten aus den Anfängen der Zukunftswerkstätten bis heute.

Wir entdecken den Fokusfinder®, eine Methode, die Antworten auf politische, philosophische, praktische Fragen gibt. Aus dem unmittelbaren Erleben entstehen Leitsätze, die zum Weiterdenken einladen. Fünf Fragen führen zu ersten Erkenntnissen. In Kreisen wird gesammelt, bewertet und Wissen zusammengefasst.

Aus der Zukunftswerkstatt heraus entstehen die folgenden Gedanken (Ergänzt durch die Autorin):

 

Was ist Kommen und Bleiben?

–       Menschen, die geflüchtet sind und Aufnahme finden, können aufatmen. Dann heißt es neue Fragen zu akzeptieren.

Wohin führt Kommen und Bleiben?

–       Die Teilnehmenden haben sich Einblicke in ihre Lebenswelten gewährt. Annäherung. Die Zeit, die gemeinsam verbracht wird, ist eine wirklich sinnvolle, belebende Zeit.

Was macht Kommen und Bleiben?

–       Beziehungen zu Geflüchteten aufzubauen, bedarf viel organisatorischer (oft ehrenamtlicher) Arbeit. Weitere Menschen zu vernetzen, kann zur Entlastung führen.

Woran zeigt sich Kommen und Bleiben?

–       Wenn Fremde zu Freunden werden, dann gibt es ein Ankommensgefühl.

Wie bleibt Kommen und Bleiben?

–       Die, die gekommen sind, lieben es in Kontakt zu sein. So entsteht gemeinsames Lernen. Aus dem gemeinsamen Lernen schöpfen die Teilnehmenden Hoffnungen.

 

Wie bleibt, was mit der Zukunftswerkstatt losgetreten wurde?

Juli 2016: Die Dokumentation geht in den Druck. Damit wollen wir die guten Erfahrungen weitergeben. Beispielsweise, wie Erzählsalon und Zukunftswerkstatt in besonderer Weise Synergien erzeugen, um Vertrauen aufzubauen und Wünschen und Hoffnungen eine handlungsperspektive zu geben.

Ich will anregen, die Ideen aus der Zukunftswerkstatt zu verwirklichen. Dazu braucht es Unterstützerinnen und Unterstützer vor Ort: Menschen aus der Politik und Verwaltung, Vereine und Initiativen, die gemeinsam mit Geflüchteten handeln.

 

September 2016: Die gute Nachricht: Ein Folgeprojekt startet mit Unterstützung der Stiftung „Demokratie von unten bauen“. Menschen vor Ort, denen die Teilhabe Geflüchteter/Menschen mit Migrationsgeschichte wichtig ist, sind eingeladen, ihre Erfahrungen mit uns zu teilen und eine Permanente Zukunftswerkstatt mit weiteren Projekten anzustoßen! Vom Wollen zum Handeln – Zukünfte in Fluss bringen

 

 

Literaturnachweis:

Jungk, Robert (1970): Sonderbeilage der Salzburger Nachrichten, 25.7.1970

 

LINKS:

Methode Zukunftswerkstatt:

Zukunftswerkstätten verstehen http://www.zukunftswerkstaetten-verein.de/dabei-sein/zukunftswerkstatt-verstehen/

Licht im Methodendschungel http://www.zwnetz.de/pages/methode.html

 

Projekt „Lausitz an einen Tisch“ und der Erzählsalon

http://www.lausitz-an-einen-tisch.de/methode-erzaehlsalon

 

Gerhard Gundermann

https://de.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Gundermann#Literatur